Das Oberlandesgericht München (1 Ws 525/23) hat sich in einem inhaltlich auffallend kritischen Beschluss zur Verwertbarkeit von ANOM-Chats geäußert – und diese verneint. Damit stellt sich das Münchener OLG gegen die Auffassungen aus Frankfurt, Saarbrücken und Köln (Köln ist bisher nicht veröffentlicht, liegt mir aber vor), wobei diesen OLG sowie dem BGH ins Stammbuch geschrieben wird, die eigene Haltung kritisch zu hinterfragen.
Das Interessante an dem Beschluss ist dabei, dass man gerade nicht zu Encrochat abgrenzt, sondern quasi einleitend festgestellt wird, dass auch bei Encrochat erhebliche Bedenken bestehen, weswegen bei ANOM umso mehr Bedenken im Raum stehen.
Hintergrund des Verfahrens
Hintergrund war ein nicht erlassener Haftbefehl des Landgerichts Memmingen, gegen den die Staatsanwaltschaft Beschwerde eingelegt hatte, so dass sich das OLG damit zu befassen hatte.
Zu den grundsätzlichen Abläufen bei ANOM siehe hier bei uns. Das OLG stellt nun fest, dass die bisherigen Rechtsausführungen des BGH zu Encrochats als solche nicht auf ANOM-Chats übertragbar sind, da diese ANOM-Chats auf flächendeckenden Maßnahmen des US-amerikanischen Federal Bureau of Investigation (FBI) beruhen, ein Drittland weder vom FBI noch vom US-amerikanischen Justizministerium benannt wird, obwohl dies den befragten Stellen bekannt sein müsste, und gleichzeitig von den befragten US-amerikanischen Stellen nur behauptet wird, dass in einem Drittland gerichtliche Entscheidungen ergangen seien.
Das Gericht kritisiert ausdrücklich, dass weder das FBI noch das US-Justizministerium den Drittstaat nennen. Sie behaupten, dass in diesem – in Europa gelegenen – Drittland gerichtliche Entscheidungen ergangen seien, ohne dass das Landgericht Memmingen hier mangels Kenntnis des Drittlandes und der dort möglicherweise ergangenen gerichtlichen Entscheidungen irgendeinen Ansatzpunkt für eine Überprüfung hätte. Das Landgericht Darmstadt hatte hier im Übrigen zutreffend von „Gerichtsentscheidungen vom Hörensagen“ gesprochen.
Entscheidung: Es gab gar keinen konkreten Verdacht!
Das OLG zitiert zunächst ausgiebig aus der vorhandenen Literatur zum Thema und kommt dann zu dem Ergebnis, dass die Maßnahme insgesamt auch unverhältnismäßig sei, da es an einem konkreten, individualisierten Tatverdacht fehle.
Das war etwas, was die Strafverteidiger auch bei Encrochat ausführlich vorgetragen hatten, was aber vom OLG mit dem Hinweis abgetan wurde, dass schon die Nutzung eines Kryptomessengers einen gewissen Verdacht begründe (man kann das natürlich auch anders sehen, anderer Meinung: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte):
Die Kombination aus Integritätsverletzung, Erhebung großer Datenmengen mit großer Informationsdichte und -vielfalt und die große Streubreite führen zur Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme. Bei einer hypothetischen Prüfung von § 100b müsste also gezeigt werden, dass die betroffenen Personen alle selbst tatverdächtig sind oder die Voraussetzungen von § 100b Abs. 3 vorliegen.
Dies führt zum zweiten Punkt: Soweit dem Verfasser der Sachverhalt bekannt ist, fehlte es für die Anordnung an einem individualisierten Tatverdacht gegenüber den betroffenen Nutzern. Die Maßnahme wurde letztlich darauf gestützt, dass diese eine anonyme und verschlüsselte Kommunikationsmöglichkeit nutzten, die bekanntermaßen auch von Kriminellen genutzt wird. Dies allein begründet jedoch keine „bestimmten Tatsachen“, auf die sich ein qualifizierter Tatverdacht iSv § 100b gegen die einzelnen Nutzer stützen lässt. Zwar ist richtigerweise für die hypothetische Rechtmäßigkeitsprüfung auf den Sach- und Kenntnisstand zum Zeitpunkt der Zweckumwidmung abzustellen. Allerdings dürfen keine Kenntnisse zugrunde gelegt werden, die sich erst aus der Auswertung der Daten ergeben hätten. Denn diese stehen erst nach der Zweckumwidmung zur Verfügung.
Zweifel beim OLG München hinsichtlich Encrochat-Daten?
Sodann geht das OLG überraschend – und überraschend ausführlich – auf das Thema Encrochat ein. Nach einer Darstellung der Rechtsauffassung des BGH wird ausgeführt, dass es, wenn der BGH die Anwendbarkeit des § 100e Abs. 6 Nr. 1 (und damit wohl auch des § 479 Abs. 2 S. 1 für die „laufenden“ Telekommunikationsdaten) verneine, an einer erforderlichen Rechtsgrundlage für die Verwendung der EncroChat-Daten durch die Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren fehle!
In dem Beschluss wird gerügt, dass sich der BGH aufgrund seiner Ablehnung der Anwendbarkeit des § 100e Abs. 6 Nr. 1 mit der Frage hätte auseinandersetzen müssen, ob sich aus der rechtsgrundlosen Verwendung der Daten durch die Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren (entspricht der Beweiserhebung) ein unselbständiges Beweisverwertungsverbot ergibt. Denn bei der Prüfung der Eingriffsschwere im Rahmen der Beweisverwertung geht es nicht um die Überprüfung ausländischer Ermittlungsmaßnahmen am Maßstab ausländischen Rechts, sondern um die Anwendung des § 261 StPO als innerstaatlichem Recht auf die Beweisverwertung im deutschen Urteil und damit um einen innerstaatlichen Sachverhalt.
Anmerkung: Ich bin (positiv) überrascht, das so zu lesen, weil genau den Punkt die OLG bisher anders sehen. Allerdings spielt hier, auch wenn nicht ausdrücklich rezipiert, die von mir angeführte Rechtsprechung des EUGH mit hinein, die nach meiner Lesart gerade ein Beweisverwertungsverbot auf nationaler Ebene fordert.
Abschließend geht das OLG dann auf die „Umwidmung“ sowie die Problematik mangelnder Nachprüfbarkeit ein – und schmeißt der bisherigen obergerichtlichen Rechtsprechung den Stock des Rechtsstaats zwischen die Radspeichen:
Der begehrte zweckumwidmende Transfer der Daten vom französischen in das deutsche Strafverfahren richtet sich im deutschen Recht nach §§ 100e Abs. 6 Nr. 1 (für auf den infiltrierten Geräten gespeicherte Daten jenseits der Grenze des § 100a Abs. 1 S. 3 StPO) und 479 Abs. 2 S. 1 StPO (für die „laufenden“ Telekommunikationsdaten). Dieser Weg würde somit ebenfalls zur Anwendbarkeit von § 100e Abs. 6 Nr. 1 und § 479 Abs. 2 S. 1 führen. Diese Prüfung hätte – wie oben ausgeführt ergeben, dass die Verwendung der Daten nicht zulässig gewesen wäre.
Die vorgenannten Zweifel an der – vom BGH jedoch bejahten – Verwertbarkeit der EncroChats haben im gegenständlichen Strafverfahren betreffend den Nachweis von Tathandlungen nur durch die ANOM-Chats umso stärkeres Gewicht, als hier bereits ausführliche Aufklärungsarbeit im Strafverfahren durch das Landgericht geleistet wurde, ohne dass ein Drittland benannt oder bekannt wurde und es auch in Zukunft offenbar nicht benannt werden wird. Auch das Vorbringen, es habe im Drittland Gerichtsentscheidungen gegeben, steht ohne Nachweis im Raum, auch dies hat die Hauptverhandlung vor dem Landgericht bereits ergeben. Im gegenständlichen Strafverfahren erscheint daher die Verwertbarkeit der ANOM-Chats mindestens zweifelhaft, weswegen die ANOM-Chats im derzeitigen Aktenstand keinen dringenden Tatverdacht begründen (…)
Die bekannt gewordenen gerichtlichen Entscheidungen zu ANOM-Chats gehen offensichtlich davon aus, dass der Verteidigung keine weiteren Erkenntnisse außerhalb der Akten zur Verfügung gestellt werden müssten (…) Durch die Trennung von beweiserhebendem und beweisverwertendem Staat werden bei der Verwertung von ANOM-Chats die Verteidigungsrechte von Angeklagten erheblich beschränkt; es werden aber auch die Aufklärungsmöglichkeiten des befassten Strafgerichts erheblich eingeschränkt, ohne dass bei Beginn der Abörmaßnahmen ein individualisierter Tatverdacht gegen die betroffenen Personen überhaupt vorlag. Im Gegenteil, die ANOM-App wurde vom FBI unbeschränkt verbreitet und die Abhörung unbeschränkt vorgenommen, ob die Nutzer zuvor hinreichend verdächtig waren oder nicht. Aus diesem Grund bestehen erhebliche Zweifel daran, ob für die Datenerhebungen nach USamerikanischem Recht oder nach deutschem Recht eine Ermächtigungsgrundlage besteht. Gleiches gilt für die Weitergabe von Daten an die ermittelnden Behörden.
Fazit
Die Entscheidung ist ein Lichtblick – nicht mehr. Aber sie ist zugleich ein Zeichen, in die Richtung, dass immer mehr Gerichte anfangen kritischer zu denken – und nicht um des Anspruchs absoluter Verfolgung oder vermeintlicher Wahrheit willen alles an Beweisen zuzulassen, was geliefert wird und dabei vielleicht nicht nachprüfbar ist.
Denn genau darum geht es: Nicht darum, dass Verbrecher auf freien Fuß kommen, sondern dass unsere Prozesse auf nachprüfbaren Beweismitteln basieren, die die Verteidigung prüfen und sich mit Blick darauf angemessen verteidigen kann. Wenn unsere Prozesse, wie in zahlreichen Encrochat-Verfahren, nur noch darauf basieren, dass man Materialien von Ermittlern blind vertraut, können wir uns die Verfahren auch gleich wieder schenken. Insoweit echtes Labsal ist die aktuelle Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die genau diese Idee, den Unterschied zwischen Inquisition und rechtsförmigen Verfahren, der gesamten Instanzrechtsprechung ins Stammbuch geschrieben hat. Fälle wie Encrochat und ANOM sind genau die, an denen sich zeigt, wie rechtsstaatlich ein Rechtsstaat wirklich ist.
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