Mit Palantir zwischen Effizienzversprechen und Grundrechtsgrenzen: Die Digitalisierung macht vor der Strafverfolgung nicht halt. Mit Systemen wie „Hessendata“, einer auf der Plattform „Gotham“ von Palantir Technologies basierenden Software, sind polizeiliche Ermittlungsbehörden in der Lage, Daten aus verschiedensten Quellen in Sekunden zu durchleuchten, zu verknüpfen und visuell aufzubereiten.
Was früher Tage oder Wochen manueller Recherche erforderte, ist nun mit wenigen Klicks erledigt. Und doch – oder gerade deshalb – stellt sich die Frage: Wie viel algorithmengestützte Ermittlungsarbeit verträgt ein Rechtsstaat? Und wo wird aus Ermittlungsintelligenz Überwachung? Update: Aktuelle Entwicklungen Ende Juni 2025 hinzugefügt.
Digitale Werkzeuge in der Strafverfolgung – Potenzial und Realität
Systeme wie Hessendata versprechen Effizienz. Sie ermöglichen es, Muster in großen Datenmengen zu erkennen, Querverbindungen zwischen Personen und Objekten sichtbar zu machen und verdichtete Hinweise auf mögliche künftige Straftaten zu gewinnen. Gerade bei der Bekämpfung schwerer Kriminalität, etwa Terrorismus oder organisierter Kriminalität, ist das ein nicht zu unterschätzender Fortschritt. Dass diese Technologie in der Praxis funktioniert, zeigen diverse Ermittlungserfolge, über die auch das hessische Innenministerium berichtet hat.
Die Grundlage dieser Auswertungen sind Daten aus polizeilichen Datenbanken (etwa POLAS, CRIME-ST, ComVor), ergänzt um forensische Extrakte (z. B. aus beschlagnahmten Mobiltelefonen) oder Telekommunikationsdaten. In der Theorie soll kein Zugriff auf offene Internetquellen bestehen – doch schon der Zwischenbericht des Hessischen Landtags lässt Zweifel aufkommen, ob externe Datenquellen nicht doch, zumindest manuell, eingespeist werden.
Der reflexhafte Ruf nach „mehr Technik“ darf nicht dazu führen, dass individuelle Rechte unter die Räder kommen.
Fachanwalt für Strafrecht Ferner
In Hessen wird die Palantir-Software unter dem Namen “Hessendata” angeblich bis zu 15.000 Mal im Jahr genutzt und ist ein Kernstück der Ermittlungsarbeit. Die Software analysiert verschiedene landeseigene Datenbanken sowie Daten aus dem Melderegister. Seitens der hessischen Polizei wird betont, dass es vor allem um mehr Effizienz im Alltag der Ermittler geht. Seit einer Einschränkung durch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2023 werden jedoch viele Daten vor den Ermittlern verborgen, um den Datenschutz zu gewährleisten.
Das Bundesverfassungsgericht zieht die Linie
Spätestens mit seinem Urteil vom 16. Februar 2023 hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt: So hilfreich automatisierte Datenanalysen sein mögen – sie sind ein Grundrechtseingriff. Und zwar ein ebenso bedeutende wie eigenständiger, der nicht einfach als „technische Hilfe“ im Rahmen ohnehin erlaubter Datenverarbeitung durchgeht.
Besonders deutlich: Die automatisierte Analyse erzeugt durch ihre Fähigkeit, Personen zu vernetzen, Verhaltensmuster zu rekonstruieren und neue Hypothesen über Verdächtige zu bilden, ein eigenes „Eingriffsgewicht“. Sie ist kein bloßes Instrument der Reorganisation – sie verändert die Qualität der Ermittlungsarbeit und erhöht das Risiko, unbeteiligte Personen in das Visier der Ermittler zu bringen.
Die Konsequenz: Solche Systeme dürfen nur auf einer eigenen, bereichsspezifischen gesetzlichen Grundlage eingesetzt werden, deren Eingriffsschwellen hinreichend bestimmt und normenklar sind. Der Gesetzgeber muss detailliert regeln, welche Daten verarbeitet werden, zu welchen Zwecken dies erlaubt ist, und mit welchen technischen und organisatorischen Garantien die Maßnahme flankiert wird. Genau daran scheiterte der § 25a HSOG in seiner damaligen Fassung.
Gefährdung der informationellen Selbstbestimmung
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt nicht nur davor, dass der Staat ohne Anlass Daten erhebt, sondern auch davor, dass bereits erhobene Daten unbegrenzt weiterverarbeitet und in neue Kontexte gestellt werden. Besonders brisant ist dabei die Kombination aus Daten verschiedener Quellen: Wer in unterschiedlichen Zusammenhängen auftaucht – etwa als Zeuge, Opfer oder Hinweisgeber – kann in der Netzwerkanalyse plötzlich als Knotenpunkt erscheinen. Das mag technisch korrekt sein, bedeutet aber einen empfindlichen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht.
Ein besonderes Risiko besteht für Menschen, die nie selbst Beschuldigte waren, deren Daten aber durch die Struktur der Ermittlungen – etwa bei Gruppenzugehörigkeiten oder räumlichen Überschneidungen – in die Analyse geraten. Dass hier schnell der Eindruck entstehen kann, jemand sei “verdächtig”, obwohl dafür keine strafprozessuale Grundlage existiert, ist mehr als ein hypothetisches Problem. Die Technik ist nicht neutral, und ihre Ergebnisse sind es auch nicht.
Predictive Policing, KI und die Blackbox-Problematik
Noch tiefgreifender wird das Problem, wenn wir über Künstliche Intelligenz in der Strafverfolgung sprechen. Zwar arbeitet Hessendata derzeit wohl (?) nicht mit lernenden Algorithmen im engeren Sinne, doch die Diskussion zeigt: Die Tendenz zur Delegation der Gefahrenprognose an technische Systeme wächst. Systeme wie COMPAS (in den USA) oder Vorschläge zur KI-basierten Stimmanalyse zeigen, wie schwer es wird, Entscheidungen noch transparent zu begründen, wenn sie auf neuronalen Netzen oder statistischen Clustern beruhen.
Gerade im Strafverfahren ist jedoch der Grundsatz der Begründung – des Warum einer Maßnahme – essenziell. Entscheidungen, die sich auf Blackbox-Ergebnisse stützen, sind weder für die Verteidigung nachvollziehbar noch für die Justiz zuverlässig überprüfbar. Wenn wir anfangen, unsere Ermittlungsschritte auf Wahrscheinlichkeiten zu gründen, die nicht erklärt werden können, drohen wir rechtsstaatlichen Boden zu verlassen.

Was bedeutet das für die Strafverteidigung?
Für Verteidigerinnen und Verteidiger eröffnen sich damit neue Aufgaben. Zum einen gilt es, das Verständnis für digitale Beweismittel und deren Herkunft zu vertiefen. Wie wurde eine Person identifiziert? Welche Daten liefen in das System? Welche Alternativen wären denkbar gewesen? Zum anderen müssen wir die juristische Einhegung dieser Systeme im Blick behalten: Wurden gesetzliche Voraussetzungen eingehalten? War die Maßnahme erforderlich, geeignet und verhältnismäßig?
Nicht zuletzt wird es darauf ankommen, Grundrechtsfragen frühzeitig zu stellen – und nötigenfalls gerichtlich klären zu lassen, ob ein Verfahren auf digitalen Fundamenten steht, die in dieser Form nicht tragfähig sind.
Update: Aktuelle Entwicklungen und Kontroversen um Palantir
Die Nutzung der Palantir-Software in Deutschland bleibt weiterhin ein kontrovers diskutiertes Thema. Neue Recherchen von NDR, WDR und der Süddeutschen Zeitung zeigen, dass die Software nicht nur zur Abwehr schwerer Gefahren wie Terroranschlägen eingesetzt wird, sondern auch bei weniger gravierenden Straftaten. Dies wirft Fragen über die Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit des Einsatzes auf.
Häufigkeit und Art der Nutzung
In Bayern wird die Software “VeRA” (Verfahrensübergreifende Recherche- und Analyseplattform), eine abgespeckte Version von Palantir, seit September 2024 eingesetzt. Offiziell soll sie zur Terrorabwehr und zur Abwehr schwerer Gefahrenlagen dienen. Doch die Praxis zeigt ein anderes Bild: Von fast hundert Einsätzen im fraglichen Zeitraum betrafen viele weniger schwerwiegende Straftaten wie Eigentums- und Vermögensdelikte. Benjamin Adjei, Grünen-Politiker aus München, kritisiert diese Praxis: “Es wird auch für deutlich weniger gemeingefährliche Situationen genutzt, und das besonders oft.”
Datenschutzbedenken
Der bayerische Datenschutzbeauftragte Petri äußert sich wohl besorgt über die massenhafte Einbeziehung unbescholtener Bürger in polizeiliche Datenanalysen. Er sieht die routinemäßige Nutzung von VeRA zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten als problematisch an, da dies das Risiko von polizeilichen Folgemaßnahmen für unbeteiligte Personen erhöht. Das bayerische Innenministerium hingegen betont, dass die Software nur von speziell ausgebildeten Beamten im Landeskriminalamt eingesetzt wird und die Nutzung im Rahmen eng gesteckter Gesetze erfolgt.
Politische Kontroversen
Auf Bundesebene bahnt sich laut Handelsblatt ein Streit über den Einsatz der Palantir-Software an. Während das Bundesinnenministerium unter Alexander Dobrindt (CSU) die Nutzung der Software bei der Bundespolizei und dem Bundeskriminalamt nicht ausschließt, lehnt die SPD die Einführung strikt ab. Sebastian Fiedler, innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, kritisiert die Abhängigkeit von einem US-amerikanischen Unternehmen und die Person des Palantir-Gründers Peter Thiel, den er als “Demokratiefeind von besonders bedrohlichem Kaliber” bezeichnet.
Ein notwendiger, aber gefährlicher Weg
Automatisierte Datenanalysen sind nicht per se rechtsstaatswidrig. Sie sind notwendig – angesichts der Datenmengen, mit denen Sicherheitsbehörden heute konfrontiert sind. Es wäre fahrlässig, ihnen Werkzeuge zu verweigern, die bei der Aufklärung schwerer Straftaten helfen können.
Aber es ist ebenso fahrlässig, diese Werkzeuge nicht mit rechtsstaatlichen Sicherungen zu versehen. Das bedeutet vor allem, wir brauchen klare Regelungen in den Gesetzen für die Behörden aber auch in der Strafprozessordnung. Ohnehin ist es nicht mehr zeitgemäß, dass wir zur Verwertung von Beweisen im Strafprozess im 21. Jahrhundert keine klaren Regelungen haben – bei der Erhebung von Beweisen und Generierung von Verdachtsmomenten über solche Software muss jedenfalls ein klarer gesetzlicher Rahmen bestehen. Dabei muss der Gesetzgeber auch Farbe bekennen bei der Frage, ob ausländische Unternehmen mit Ihrer Software Zugriff auf diese sensiblen Daten hiesiger Bürger und Einwohner erhalten.
Der reflexhafte Ruf nach „mehr Technik“ darf nicht dazu führen, dass individuelle Rechte unter die Räder kommen. Gerade in Zeiten massiver technischer Möglichkeiten sind es die Grenzen, die den Rechtsstaat auszeichnen. Wir brauchen nicht weniger Technik, sondern mehr Recht – und eine klare Vorstellung davon, was wir im Namen der Sicherheit opfern wollen. Und was nicht. Die Diskussion über eine bundeseinheitliche Lösung für die polizeiliche Datenanalyse ist glücklicherweise noch nicht abgeschlossen: Während einige Bundesländer und Polizeigewerkschaften für den sofortigen Einsatz von Palantir plädieren, setzen andere auf die Entwicklung einer europäischen Alternative.
Das medial immer wieder gerne aufgegriffene Mantra ist dabei die Dringlichkeit: “Wir dürfen uns angesichts der aktuellen Bedrohungslage keine Verzögerungen leisten.” wird derzeit gerne zitiert … bei einem Grundrechtseingriff, der offenkundig entweder nicht verstaden oder bewusst heruntergespielt wird. Der aktuelle Status jedenfalls ist, dass die Nutzung der Palantir-Software in Deutschland weiterhin kontrovers diskutiert wird. Während die einen auf die Effizienz und die Erfolge der Software verweisen, betonen die anderen die Notwendigkeit von Datenschutz und digitaler Souveränität. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Diskussion auf Bundesebene entwickeln wird und ob eine europäische Alternative gefunden werden kann.
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