Die Digitalisierung hat die Strafverfolgung nachhaltig verändert … wo früher Aktenordner durchforstet wurden, sind es heute Festplatten, Cloud-Speicher und Smartphones, die als Beweismittel im Fokus der Ermittler stehen. Doch mit der technischen Entwicklung wachsen auch die Herausforderungen: Die Auswertung digitaler Datenbestände dauert oft monate- und manchmal sogar jahrelang.
Was aber passiert, wenn die Staatsanwaltschaft Speichermedien über Jahre hinweg sichert, ohne dass eine zügige Auswertung in Sicht ist? Mit dieser Frage hat sich kürzlich das Landgericht Essen (25 Qs-20/25) in einem Beschluss befasst, der für Betroffene von Durchsuchungen von großer Bedeutung ist.
Hintergrund
Der Fall, der dem LG Essen vorlag, begann im Februar 2022. Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen einen Mann wegen des Verdachts, kinderpornografische Inhalte besessen zu haben. Im Rahmen einer Durchsuchung wurden seine elektronischen Geräte beschlagnahmt – ein in solchen Fällen üblicher Vorgang. Der Beschuldigte kooperierte, gab sogar sein Passwort preis, und die Daten wurden zur Auswertung mitgenommen. Doch dann passierte: nichts. Oder fast nichts. Die Polizei teilte mit, dass aufgrund der hohen Arbeitsbelastung frühestens 2025 mit einem Ergebnis zu rechnen sei. Die Staatsanwaltschaft selbst unternahm kaum etwas, außer gelegentlich nach dem Stand der Dinge zu fragen. Nach über drei Jahren Wartezeit legte der Verteidiger des Beschuldigten Beschwerde ein – mit Erfolg.
Das LG Essen hob die vorläufige Sicherstellung der Daten auf. Der Kern der Entscheidung liegt nicht in der Frage, ob die Durchsuchung an sich rechtmäßig war, sondern darin, dass die Staatsanwaltschaft ihr Ermessen nicht ausgeübt hatte. Nach § 110 der Strafprozessordnung (StPO) obliegt es allein der Staatsanwaltschaft zu entscheiden, in welchem Umfang eine Durchsicht der sichergestellten Daten notwendig ist, wie sie zu gestalten ist und wann sie zu beenden ist. Doch genau das hatte sie hier nicht getan. Statt eine eigene Abwägung vorzunehmen, ob die jahrelange Sicherstellung noch verhältnismäßig sei, verlagerte sie die Verantwortung auf die Polizei und deren Arbeitsbelastung. Das reicht nicht aus, urteilte das Gericht. Ein solches Vorgehen stellt einen Ermessensnichtgebrauch dar – und der ist rechtswidrig.

Ein Fall aus der Praxis
Die Entscheidung betrifft ein Problem, das in der Praxis immer häufiger auftritt: Die Auswertung digitaler Beweismittel dauert oft unangemessen lange. In unserer Kanzlei beobachten wir regelmäßig, dass Auswertungen weit über ein Jahr hinausgehen, und in mehreren Fällen liegen die Wartezeiten bereits bei über drei Jahren. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Die Datenmengen, die bei Durchsuchungen sichergestellt werden, sind oft enorm. Moderne Speichermedien fassen Terabytes an Daten, und die Analyse dieser Bestände erfordert nicht nur Zeit, sondern auch spezialisiertes Personal und technische Ressourcen. Hinzu kommt, dass viele Ermittlungsbehörden personell unterbesetzt sind. Die Folge ist eine Überlastung der Auswertungskapazitäten, die zu Verzögerungen führt, die für die Betroffenen oft kaum nachvollziehbar sind. Die ZAC NRW etwa lagert nun ständig an externe Gutachter aus, die deutlich mehr Kosten verursachen, aber auch nicht schneller sind. In weiten Teilen ist die Dauer dieser Verfahren einfach nur noch peinlich für einen modernen Rechtsstaat.
Das dauert halt so lange…
Doch wie viel Geduld kann man von einem Beschuldigten verlangen? Das Gesetz sieht vor, dass die Durchsicht von Daten zügig erfolgen soll.
Der Bundesgerichtshof hat in früheren Entscheidungen betont, dass eine Dauer von einem Jahr in der Regel das Maximum darstellen sollte. Alles, was darüber hinausgeht, bedarf einer besonders sorgfältigen Begründung. Im vorliegenden Fall hatte die Staatsanwaltschaft Essen jedoch keine eigene Ermessensentscheidung getroffen, sondern sich auf die Mitteilungen der Polizei verlassen. Das reicht nach Ansicht des LG Essen nicht aus. Die Staatsanwaltschaft als Herrin des Verfahrens muss selbst prüfen, ob die Sicherstellung der Daten noch verhältnismäßig ist – besonders dann, wenn sich die Auswertung über Jahre hinzieht.
Für Betroffene einer Durchsuchung hat diese Entscheidung eine wichtige Signalwirkung. Sie zeigt, dass Gerichte bereit sind, die Staatsanwaltschaft in die Pflicht zu nehmen, wenn diese ihr Ermessen nicht ausübt. Wer sich in einer ähnlichen Situation befindet, sollte nicht zögern, rechtliche Schritte einzuleiten. Eine Beschwerde gegen die Dauer der Sicherstellung kann erfolgreich sein, wenn die Behörden keine nachvollziehbaren Gründe für die Verzögerung nennen können. Gleichzeitig macht der Fall deutlich, wie wichtig es ist, dass Verteidiger die Auswertung aktiv begleiten und auf Transparenz drängen. Nur so lässt sich verhindern, dass Daten jahrelang ohne konkreten Anlass sichergestellt bleiben.
Recht kostet Geld
Die Justiz ist am Limit.
Die Entscheidung des LG Essen ist auch ein Appell an den Gesetzgeber. Die Strafprozessordnung ist in weiten Teilen noch auf eine analoge Welt zugeschnitten. Die Realität sieht heute anders aus: Digitale Beweismittel erfordern neue Regelungen, die sicherstellen, dass Auswertungen nicht ins Uferlose verzögert werden.
Vielleicht wäre eine gesetzliche Obergrenze für die Dauer der Datensicherung ein Schritt in die richtige Richtung – dann müsste man aber auch zugleich mal die finanziellen und personellen Ressourcen schaffen, damit man zügig arbeitet. Denn während der Gesetzgeber ständig neue Strafgesetze schafft, lässt er die Justiz weitestgehend ausbluten. Bis dahin bleibt es Aufgabe der Gerichte, die Staatsanwaltschaften daran zu erinnern, dass Ermessen nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht ist – besonders dann, wenn Grundrechte von Bürgern auf dem Spiel stehen.
Am Ende bleibt die Frage, wie lange eine Gesellschaft es hinnehmen kann, dass digitale Beweismittel jahrelang unausgewertet in den Archiven der Ermittlungsbehörden lagern. Der Fall aus Essen zeigt, dass die Gerichte hier möglicherweise beginnen Grenzen zu setzen. Ob das ausreicht, um das Problem grundlegend zu lösen, bleibt abzuwarten. Fest steht: Wer als Betroffener in einer solchen Situation steckt, sollte nicht einfach abwarten, sondern seine Rechte aktiv einfordern. Denn eines ist klar – die Zeit arbeitet nicht immer für die Justiz.
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