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Durchsuchung und Beschlagnahme elektronischer Daten: Verhältnismäßigkeit als Grenze staatlicher Eingriffe

Eine Entscheidung des Landgerichts München I vom 18. Dezember 2024 (19 Qs 24/24) setzt – endlich noch einmal – ein klares Signal für die Bedeutung der Verhältnismäßigkeit bei strafprozessualen Maßnahmen. Konkret ging es um die Durchsuchung und Beschlagnahme elektronischer Datenspeicher im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens wegen versuchter Erpressung. Das Gericht stellte fest, dass die Maßnahme unverhältnismäßig war und hob die entsprechenden Beschlüsse auf.

Diese Entscheidung ist von grundsätzlicher Bedeutung, da sie die verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Zugriff auf digitale Datenbestände im Strafverfahren betont. Besonders relevant sind dabei die Grundrechte auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) und informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), die staatlichen Maßnahmen enge Grenzen setzen.

Sachverhalt

Der Beschwerdeführer wurde verdächtigt, im Zusammenhang mit einer Zwangsvollstreckung einen Erpressungsversuch unternommen zu haben, indem er in einem Schreiben finanzielle Forderungen an Bedienstete eines Rundfunkunternehmens stellte. Aufgrund dieses Verdachts leitete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren ein und beantragte einen Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss, um elektronische Beweismittel sicherzustellen.

Obwohl sich der Beschuldigte bereits Monate zuvor umgemeldet hatte und keine neuen Ermittlungserkenntnisse vorlagen, erließ das Amtsgericht München am 07. Februar 2024 die Anordnung. Vollzogen wurde die Durchsuchung jedoch erst fast ein Jahr nach dem betreffenden Vorfall, was erhebliche Zweifel an der Erfolgsaussicht der Maßnahme aufwarf.

Beschlagnahmt wurden u.a. ein PC-Tower, ein USB-Stick sowie mehrere Mobiltelefone, ohne dass eine Differenzierung nach ihrer möglichen Relevanz für das Verfahren vorgenommen wurde. Der Beschuldigte erhob daraufhin Beschwerde, die das Landgericht München I als begründet ansah.

https://www.ferner-alsdorf.de/durchsicht-von-elektronischen-speichermedien-%c2%a7110-stpo/

Juristische Einordnung: Verhältnismäßigkeit als Prüfmaßstab

Die Verhältnismäßigkeit ist ein zentrales Prinzip des Strafprozessrechts, das insbesondere bei Grundrechtseingriffen wie Durchsuchungen und Beschlagnahmen gewahrt sein muss. Drei wesentliche Prüfungsstufen sind dabei zu beachten:

  1. Geeignetheit – Die Maßnahme muss objektiv dazu beitragen, die Ermittlung der Straftat zu fördern.
  2. Erforderlichkeit – Es darf kein milderes Mittel existieren, das den gleichen Erfolg verspricht.
  3. Angemessenheit – Der Eingriff darf nicht außer Verhältnis zur Schwere der Tat und der Beweisrelevanz stehen.

Das Gericht kam zu dem Schluss, dass die Durchsuchung und Beschlagnahme in mehrfacher Hinsicht unverhältnismäßig war:

1. Zweifel an der Erfolgsaussicht

Der Grundsatz der Auffindewahrscheinlichkeit verlangt, dass zu erwarten ist, dass die gesuchten Beweismittel tatsächlich vorgefunden werden. Da zwischen dem Schreiben des Beschuldigten und der Durchsuchung fast ein Jahr vergangen war, bestanden erhebliche Zweifel daran, dass das betreffende Dokument noch gespeichert war. Das Gericht führte aus, dass ein solch erheblicher Zeitablauf regelmäßig gegen die Erfolgsprognose einer Durchsuchung spricht.

2. Fehlen der Erforderlichkeit

Die Staatsanwaltschaft hatte ursprünglich keine weiteren Ermittlungsmaßnahmen für nötig gehalten und eine Vernehmung des Beschuldigten als ausreichend angesehen. Erst nachdem dieser umgezogen war und die Vernehmung nicht stattfand, wurde der Antrag auf Durchsuchung gestellt. Dies deutet darauf hin, dass es sich nicht um eine unabdingbare Maßnahme, sondern um eine vorsorgliche Datensicherung handelte – eine Praxis, die jedoch nicht den Anforderungen an die Erforderlichkeit genügt.

3. Überschießender Zugriff auf elektronische Daten

Ein besonders kritischer Punkt war die pauschale Beschlagnahme sämtlicher elektronischer Geräte, darunter auch ein nicht internetfähiges Klapp-Handy, das offensichtlich keine relevanten Daten enthalten konnte. Das Gericht stellte klar, dass eine pauschale Sicherstellung verfassungsrechtlich problematisch ist, da sie das Risiko birgt, weit über den eigentlichen Ermittlungszweck hinausgehende Informationen zu erfassen:

Demnach sind bei dem Vollzug der Beschlagnahme – insbesondere beim Zugriff auf umfangreiche elektronisch gespeicherte Datenbestände – die verfassungsrechtlichen Grundsätze zu gewährleisten, die der Senat (…) entwickelt hat. Hierbei ist vor allem darauf zu achten, dass die Gewinnung überschießender, für das Verfahren bedeutungsloser Daten nach Möglichkeit vermieden wird. Die Beschlagnahme sämtlicher gespeicherter Daten zum Zweck der Erfassung von Kommunikationsdaten, etwa des E-Mail-Verkehrs, ist dabei regelmäßig nicht erforderlich. Vielmehr muss im Regelfall wegen des von vornherein beschränkten Durchsuchungsziels die Durchsicht der Endgeräte vor Ort genügen.

https://www.ferner-alsdorf.de/rechtsmittel-gegen-durchsicht-von-datentraegern/

Rechtlicher Hintergrund: Schutz der informationellen Selbstbestimmung

Die Entscheidung betont den hohen Stellenwert der Grundrechte auf Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung. Die Beschlagnahme digitaler Speichermedien kann besonders weitreichende Auswirkungen haben, da sie nicht nur einzelne Dokumente, sondern potenziell sämtliche private und berufliche Daten einer Person betrifft.

Bereits das Bundesverfassungsgericht hat in seinem wegweisenden Urteil zur Online-Durchsuchung klargestellt, dass der Zugriff auf digitale Daten nur unter strengen Bedingungen erfolgen darf. Insbesondere ist darauf zu achten, dass:

  • Datenbestände nicht pauschal sichergestellt werden, sondern eine gezielte Sichtung vor Ort erfolgt.
  • Nicht verfahrensrelevante Daten soweit möglich ausgeschlossen bleiben.
  • Eine richterliche Kontrolle im Sinne einer effektiven Grundrechtswahrung erfolgt.
https://www.ferner-alsdorf.de/ausnutzen-von-it-sicherheitsluecken-durch-behoerden/

Praktische Konsequenzen für Strafverfolgungsbehörden und Betroffene

Die Entscheidung hat erhebliche Auswirkungen auf die Praxis:

  1. Strengere Anforderungen an Durchsuchungsbeschlüsse
    Ermittlungsrichter müssen künftig detaillierter prüfen, ob eine Durchsuchung tatsächlich erfolgsversprechend und erforderlich ist. Zeitablauf und alternative Ermittlungsmaßnahmen müssen stärker berücksichtigt werden.
  2. Eingrenzung von Beschlagnahmen
    Die pauschale Sicherstellung von Datenträgern wird erschwert. Stattdessen ist die Sichtung der Daten vor Ort vorrangig zu prüfen, um überschießende Eingriffe zu vermeiden.
  3. Stärkere Rechte für Betroffene
    Personen, deren elektronische Geräte beschlagnahmt wurden, haben bessere Erfolgsaussichten, sich gegen eine unverhältnismäßige Maßnahme zur Wehr zu setzen. Eine gerichtliche Überprüfung kann sich lohnen, insbesondere wenn die Maßnahme pauschal erfolgt ist.

Es ist einfach Schade, dass man sich in einem modernen Rechtsstaat noch immer mit solchen Sachverhalten auseinandersetzen muss – die hiesige Praxis zeigt dabei, dass Gerichten (ohnehin gerne schnell beim Unterzeichnen von Durchsuchungsbeschlüssen dabei) jegliches Empfinden im Umgang mit der Erhebung von Daten bei solchen Maßnahmen fehlt.

Fazit

Das Landgericht München I hat mit seiner Entscheidung klargestellt, dass die Verhältnismäßigkeit eine zentrale Schranke bei staatlichen Eingriffen in digitale Daten ist. Eine pauschale Beschlagnahme ohne Differenzierung nach Relevanz und Erforderlichkeit ist rechtswidrig. Dies stärkt den Schutz der Grundrechte und setzt der zunehmenden Digitalisierung polizeilicher Ermittlungsmaßnahmen klare Grenzen.

Für die Praxis bedeutet dies eine notwendige Sensibilisierung der Justiz und eine Stärkung der Betroffenenrechte – es könnte ein wichtiger Schritt hin zu einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Strafverfolgung und Datenschutz sein. Doch wir sind noch weit davon entfernt, dass solche Vorgänge Einzelfälle sind; das deutsche Strafprozessrecht nimmt keinerlei gebotene Rücksicht auf die moderne Lebensweise. Die hier betriebene Ausforschung bei dem bislang nur notwendigen einfachen Tatverdacht steht gar nicht mehr im Verhältnis zu der Tiefe des Grundrechtseingriffs.

Rechtsanwalt, erfahrener Fachanwalt für Strafrecht & IT-Recht - spezialisiert auf Strafverteidigung, Wirtschaftsstrafrecht und IT-Recht mit dem Schwerpunkt Softwarerecht ... mit einem Faible für Cybercrime, IT-Forensik, Cybersecurity und digitale Beweismittel. Hier bei LinkedIn zu finden!
Rechtsanwalt Jens Ferner (IT-Fachanwalt & Strafverteidiger)
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